Das leere Grab

Das leere Grab

Jesus wird von Pilatus als Aufrührer zum Tod durch die Kreuzigung verurteilt und hingerichtet. Sein Leichnam wird – wie bei Gekreuzigten üblich – in einem namenlosen Grab verscharrt. So könnte es gewesen sein.

Die ältesten Aufzeichnungen, die wir von den darauf folgenden Ereignissen besitzen, sind die Briefe des Paulus. Insbesondere der 1. Korintherbrief setzt sich in Kap. 15 mit Jesu Auferweckung auseinander. Dieser Brief ist etwa 25 Jahre nach Jesu Kreuzigung entstanden.

Noch jünger sind die Evangelien (ca. 40 Jahre nach Jesu Tod) und die Apostelgeschichte (ca. 50 – 70 Jahre nach Jesu Tod).

Der 1. Korintherbrief erwähnt kein Grab – Paulus kennt diese Graberzählung nicht. Auch die noch späteren, in seinem Namen verfassten Briefe enthalten keinen Hinweis auf das leere Grab. Dasselbe gilt für alle anderen Briefe des biblischen Kanons (Hebräerbrief, Jakobusbrief, die Johannesbriefe und die Offenbarung). Selbst die Apostelgeschichte erwähnt das Grab mit keinem Wort. Es ist also ursprünglich nur bei Markus zu finden. Sein Bericht war den anderen drei Evangelisten bekannt und sie haben ihn mit jeweils vielen Veränderungen übernommen. Allein schon diese Tatsache zeigt, dass die Evangelisten die Grabeserzählung nicht als historischen Bericht aufgefasst haben – sie hätten sie sonst nicht so frei umgestalten können.

Die Erzählung vom leeren Grab ist also Jahrzehnte nach Jesu Tod entstanden. Als Ursprungsort könnte man Rom annehmen, wenn man der altkirchlichen Tradition folgt. Rom in den 70er Jahren n. Chr., das war die Zeit der ersten großen Verfolgung unter Nero. Es war auch die Zeit, in der sich die Christen in den Katakomben zu Gottesdiensten trafen. Fast erscheint die Grabeserzählung wie ein Anspiel, für den Gottesdienst in den Katakomben geschrieben: Man stelle sich eine Halle mit leeren, in den Fels gehauenen Grabstellen vor. Ein Gemeindeglied deutet auf eines der Gräber: „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten“ (Mk 16,6).

Die Erzählung vom leeren Grab möchte durch ihre Verdinglichung der Auferweckung Jesu das Geschehen plastisch werden lassen. Aus einer geistigen Vorstellung wird eine plastische, bildhafte Geschichte. Für dieses Phänomen gibt es eine Reihe von Parallelen. So heißt es z. B. bei Johannes: „Er kam in das Seine, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf (Jh 1,11)“. Dieses geistige Geschehen, transformiert Lukas in seiner Erzählung in den Satz: „ … denn sie hatten keinen Raum in der Herberge (Lk 2,7)“. (Vgl. meine Ausführungen zur Weihnachtsgeschichte nach Lukas,
 Lk 2,1-21.)

Die geistige Vorstellung der Auferstehung (ohne die bildhafte Geschichte) finden wir in 1 Kor 15. Paulus widmet diesem Thema ein ganzes Kapitel. Er beginnt mit dem zentralen Evangelium, das er nicht selber erdacht, sondern – viele Jahre zuvor – selber empfangen hat: „Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen“ (V. 3-5). Der Text macht deutlich: Nicht das leere Grab ist Gegenstand des Evangeliums, sondern die Begegnung mit dem Lebendigen.

Nun könnte man denken: Die Begegnung mit dem Auferstandenen setzt das leere Grab voraus. In diese Denkspur führt uns aber einzig jene Erzählung von Markus. Das Gegenteil ist der Fall. So überzeugt Paulus von der Auferstehung Jesu ist, so vehement lehnt er eine Auferstehung ab, die an einen irdischen Leib gebunden ist: „Das sage ich aber, liebe Brüder, dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können; auch wird das Verwesliche nicht erben die Unverweslichkeit“ (V. 50).

Der irdische Leib Jesu spielt im Denken des Paulus keine Rolle: „Der erste Mensch, Adam, wurde zu einem lebendigen Wesen, der letzte Adam (Christus) zum Geist, der lebendig macht“ (V. 45). Im 2. Korintherbrief macht Paulus ebenfalls noch einmal deutlich, dass er den irdischen Leib Jesu nicht mit seinem geistigen Leib in Verbindung bringt: „ … auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihm doch jetzt so nicht mehr“ (2 Kor 5,16). Hätte die Erzählung vom leeren Grab einen historischen Hintergrund gehabt, es hätte Paulus vermutlich ähnliche Denkschwierigkeiten gemacht wie uns „aufgeklärten“ Menschen heute.

Interessanterweise ist aber auch genau das die Botschaft, die die Erzählung vom leeren Grab vermitteln will:  „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden“ (Lk 24,5-6). In anderen Worten: Ihr sucht „Christus nach dem Fleisch“ (s.o.), aber Christus wurde „zum Geist, der lebendig macht“ (s.o.). Sein irdischer Leib (und damit sein Grab) sind nicht
wichtig. Entscheidend ist die (heute wie damals mögliche) Begegnung mit dem lebendigen
Christus.

Jahrhundertelang haben sich Menschen Sorgen gemacht: Wie kann man auferstehen, wenn der Leib zerstückelt oder verbrannt wird? Paulus würde sagen: Macht euch keine Sorgen. „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben; auch wird das Verwesliche nicht erben die Unverweslichkeit“ (1 Kor 15,50). Der Engel der Graberzählung würde ergänzen: „Kümmert euch nicht um zerstückelte oder verbrannte Leiber. Sucht das Leben nicht in den Gräbern. Es ist nicht hier. Sucht das Leben beim Auferstandenen.“ Und selbst der Evangelist Johannes, der ja das Bild vom leeren Grab übernommen hat, würde bekräftigen: „Der Geist ist’s, der lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich (= Christus) zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben“ (Jh 6,63).

Vielleicht hatte die Erzählung vom leeren Grab ihren Ursprung in den römischen Katakomben
(s.o.). Jedenfalls erscheint es sehr wahrscheinlich, dass sie zuerst von Frauen erzählt wurde. Vielleicht war es ursprünglich sogar eine jener „Altweiberfabeln“, von denen Paulus in 1 Tim 4,7 spricht (vgl. auch Tit 1,14), denn selbst Lukas berichtet: „Und es erschienen ihnen (= den Jüngern) diese Worte, als wär’s Geschwätz, und sie glaubten ihnen nicht“ (Lk 24,11). Hier liegt vielleicht auch der Grund für den seltsamen Schluss des Markusevangeliums. Sein letzter Vers lautet: „Und sie (= die Frauen) gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich“ (Mk 16,8 – die Verse 9-20 wurden sehr viel später hinzugefügt). Irgendwie musste ja deutlich gemacht werden, warum diese Erzählung erst so spät aufkam. Die Leute mussten sich fragen: Warum haben wir in den vergangen Jahren und Jahrzehnten nichts vom leeren Grab gehört? Antwort bei Markus : Weil die Frauen nichts davon berichteten! Später, als die Geschichte vom leeren Grab bekannt geworden war, und als Augenzeugen  des Auferstehungsgeschehens nicht mehr lebten, konnte man die Geschichte variieren. Jetzt erzählten die Frauen doch von dem Geschehen und Petrus und Johannes wurden ihre ersten Zeugen. So konnte man die Erzählung nutzen, um das Primat des Petrus unter den Aposteln (zu dieser Zeit bereits unumstritten) zu unterstreichen.

Zwei Argumente werden immer wieder gegen die These, die Berichte um das leere Grab seien nicht historisch, sondern allegorisch, ins Feld geführt.

(1) „Das Auferstehungskerygma hätte sich keinen Tag, keine Stunde in Jerusalem halten können, wenn das Leersein des Grabes nicht als Tatsache für alle Beteiligten festgestanden hätte.“
(Peter Althaus)

Antwort: Es gab kein Grab, das auffindbar gewesen wäre. Als die Jünger die Auferstehung Jesu predigten (Tage, Wochen, Monate nach der Kreuzigung?), war Jesus längst von den Römern in einem anonymen Grab, zusammen mit den anderen Gekreuzigten dieses Tages, begraben
worden. Da es die Erzählung vom leeren Grab noch nicht gab, war der Verbleib des Leichnams Jesu in den Tagen oder Wochen nach der Kreuzigung gar kein Thema. Als das leere Grab schließlich (Jahrzehnte später) zum Thema wurde, war der Verbleib des Leichnams Jesu erst recht nicht mehr rekonstruierbar. Es kursierte eine Geschichte, die den Jüngern vorwarf, den Leichnam ihres Herrn gestohlen zu haben. Interessanterweise ist diese Geschichte, ebenso wie die Graberzählung, jüngeren Datums, also erst entstanden, als die Erzählung vom leeren Grab seine Wirkung entfaltete.

(2) Für den Juden und für die jüdische Anthropologie war eine Auferstehung nur als leibliche Auferstehung denkbar.

Antwort: Leiblich, ja – aber nicht so naiv, dass man zurzeit Jesu nicht schon zwischen einem diesseits-weltlichen und einem jenseits-himmlischen Leib unterscheiden konnte. Wiederum ist Paulus der beste Kronzeuge: Der verwesliche Leib wird den himmlischen Leib nicht erben. Inwieweit Paulus sich diesen himmlischen Leib dinglich-materiell vorstellte, ist aus dem Text
(1 Kor 15) nicht erkennbar. Und es ist auch für diesen Argumentationsgegenstand nicht wichtig. Jedenfalls ist der Leichnam Jesu für Paulus kein Verkündigungsthema. Er predigt – ausschließlich – den auferstandenen Christus.

Wir halten noch einmal fest: Die Erzählung vom leeren Grab ist sehr spät entstanden. Die frühste schriftliche Version, die uns vorliegt, entstand mindestens 40 Jahre nach Jesu Tod. Wie der weitaus größte Teil der Evangelien möchte auch die Erzählung vom leeren Grab geistliche Prozesse und Wirklichkeiten anschaulich, dinglich erzählen. Die entscheidende Botschaft: Christus ist nicht hier, er ist auferstanden. Für Leichenverehrung (Balsamierung, vgl. Mk 16,1) und Grabesverehrung (Grabeskirche!) ist kein Platz. Der Auferstandene wird erfahrbar durch sein Wort (z. B. Lk 24,6ff oder Jh 6,63) und durch das rechte Verständnis der alttestamentlichen Schriften (Lk 24,25ff).

Für uns „aufgeklärte“ Menschen (in 100 Jahren wird man uns vielleicht anders bewerten …) birgt diese Sicht eine große Enttäuschung, aber auch eine Entlastung und eine neue Hoffnung.

Die Enttäuschung liegt darin, dass wir uns von der liebgewonnenen Vorstellung trennen müssen, die Auferstehungserzählungen der Evangelien wären historische Berichte. Von einschlägigen Hollywood-Filmen bis zu den Predigten von unseren Kanzeln werden diese allegorischen Texte historisch ausgelegt. Das führt zu zahlreichen Schwierigkeiten, weil die Evangelisten die historische Ebene nur als Vehikel benutzen, um ihre Botschaft anschaulich zu machen. Einige Beispiele:

 (1) Die Zeugen des Todes Jesu:

Nach Markus, Lukas und Matthäus waren viele Frauen, die Jesus nachgefolgt waren, Zeugen seines Todes. Sie verfolgten das Geschehen „von weitem“. Einige werden namentlich aufgeführt. Jesu Mutter findet dabei in den synoptischen Evangelien keine Erwähnung. Das wäre eigentlich unvorstellbar, wenn sie dabei gewesen wäre. Nach Lukas standen auch „alle seine Bekannten von ferne“, davon berichten die anderen Evangelien nichts (vgl. aber auf der allegorischen Ebene
Ps 38,12: „Meine Lieben und Freunde scheuen zurück vor meiner Plage und meine Nächsten halten sich ferne.“) Nach Johannes sind drei Frauen Zeugen des Todes Jesu, darunter eben auch Jesu Mutter (s.o.) sowie der Jünger Johannes. Jesus spricht mit ihnen, sie stehen also nicht „von Ferne“. Die Intention beim (Evangelisten) Johannes ist offensichtlich: Durch die „Adoption“ des (Jüngers) Johannes bekommt dieser eine Sonderstellung. Das Thema taucht bei Johannes mehrmals auf (z. B. Jh 20,4 oder Jh 21,21 ff). Wenn es historisch wäre, hätte es in den synoptischen Evangelien seinen Widerhall finden müssen.

 (2) Jesu Grablegung:

Nach Mk 15,47 waren es nur zwei Frauen, die „schauten, wo er hingelegt worden war“, bei Lukas sind es alle nachfolgenden Frauen (Lk 23,55). Da Jesus nach allen Evangelisten von Josef von Arimatäa begraben wurde, einem angesehenen Ratsherrn, zugleich aber auch einem Jünger Jesu (vgl. Mk 15,43 und Mt 27,57), hätten die Frauen doch ohne weiteres bei der Grablegung anwesend sein können. Dann hätten sie auch gesehen, dass (nach Jh 19,39 ff) auch Nikodemus dabei war, der „etwa 100 Pfund“ (!) Salböle mitbrachte und den Leichnam Jesu zusammen mit Josef von Armatäa einbalsamierte. Warum also nach dem Feiertag zurückkommen, die Leinentücher nochmals öffnen und Jesu Leichnam nochmals salben?

 (3) Der Auferstehungsbericht:

Auch hier finden wir zwischen den Berichten große Unterschiede. Nach Markus kommen Maria von Magdala und die Maria des Jakobus und Salome, um Jesu Leichnam zu salben. Bei Lukas sind es alle Frauen, die Jesus nachgefolgt sind. Bei Matthäus sind es nur Maria von Magdala und „die andere Maria“. Bei Johannes ist es nur Maria von Magdala. Drei Frauen – alle Frauen – zwei Frauen – eine Frau: Jeder Evangelist erzählt seine eigene Geschichte.

Dasselbe gilt für die Engelserscheinungen: Mal ist es „ein Jüngling“, mal sind es „zwei Männer“, mal ist es „ein Engel“, mal sind es „zwei Engel“. Auch ihre Botschaft ist unterschiedlich: „Geht zu den Jüngern und sprecht: Er zieht euch voran nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen“ (Mk 16,7 und Mt 28,7) – „Jesus ist auferstanden – erinnert euch an seine Worte, da er noch in Galiläa war“ (Lk 24,6). Nach Johannes sind es zwei Engel, die der Maria von Magdala erscheinen. Sie haben aber keine Botschaft für sie. Vielmehr ist es der Auferstandene selber, der plötzlich erscheint und ihr aufträgt: „Gehe zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (Jh 20,17). Kein Wort also von Galiläa. Andererseits berichtet ein späterer Nachtrag zum Johannessschluss (Kap. 21) von Jesu Erscheinen in Galiläa, während die Synoptiker dieses so wichtige Ereignis (Jesus überträgt Petrus die Gemeindeleitung trotz seiner Verleugnung) nicht kennen. Auch diese Erzählung (wie alle anderen der Evangelien) taucht weder in der Apostelgeschichte noch in den anderen Büchern des NT auf.

Fazit: Alle diese Erzählungen sind nicht historisch. Sie sind aber auch keine Altweiberfabeln, jedenfalls nicht in der uns überlieferten schriftlichen Form. Es sind Allegorien, komponierte Bildergeschichten, die nicht aus Fabulierlust entstanden, die keine Märchen erzählen wollen, sondern die tiefe theologische Wahrheiten „illustrieren“ (vgl. dazu nochmals die Ausführungen unter dem Punkt „Schriftverständnis“).

Also Enttäuschung – Verabschiedung von liebgewonnenen „Fakten“ – ein neuer, andersartiger Blick auf die Evangelien. Aber auch: Entlastung. Denn auch wenn uns heutige Menschen vielleicht der Glaube an das leere Grab aufgrund unseres wissenschaftlichen Weltbildes Mühe macht, können wir doch an die Auferstehung Christi glauben. Nimmt man die Erzählung vom leeren Grab als das, was es einmal sein wollte, nämlich keine Ausschmückung der Auferstehungserfahrung, sondern ihre Proklamation mit allegorischen Mitteln, dann darf sie ihren guten Platz in den Evangelien behalten.

Auch unsere Kirchenlieder sind ja voller Allegorien: „Ein feste Burg ist unser Gott“. – Das darf man natürlich nicht wörtlich nehmen. Es ist ein Bild für den Schutz, den wir von Gott erfahren. – „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart.“ Natürlich ist Jesus keine Rose. Er ist auch kein Reis, kein Trieb, der aus einem Baumstumpf neu austreibt, obwohl genau das mit dem Bild gemeint ist (Jes 11,1). Wir verstehen, was das Bild uns sagen will: Jesaja prophezeit ein Friedensreich, das Gott mit dem treuen Rest Israels aufrichten wird. Und der Dichter sagt: Jesus ist dieser treue Rest Israels. Ihm mit seinen Nachfolgern ist das Friedensreich verheißen. Auch das ist keine Ausschmückung, sondern zentrale Verkündigung mit allegorischen Mitteln.

Ebenso „das leere Grab“: Jesus ist nicht hier – er ist auferstanden. Auch dieses Bild hat Vor-bilder im AT. So heißt es in Ps 16,10: „Du wirst mich nicht dem Tode überlassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube (das Grab) sehe.“ Oder Ps 40,3: „Ich harrte des Herrn … und er zog mich aus der grausigen Grube.“ Oder Hes 37,12: „Ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf …“ Alle diese Verse sind Vorbilder der Allegorie von Jesu leerem Grab. So ist dieses Bild, wie schon gesagt, keine legendäre Ausschmückung, sondern zentrale Christusbotschaft.

Entlastung erfahren wir auch dadurch, dass von uns kein naiver, ein den Naturwissenschaften eklatant widersprechender Glaube abverlangt wird. Das Verwesliche verwest – damals wie heute. Der Auferstandene begegnet seinen Jüngern im Wort, im Sakrament (Emmaus-Jünger!), im seelischen Erleben – damals wie heute. Kein Stern bleibt über Bethlehem stehen und doch verstehen wir: Jesus, der Neugeborene, ist der verheißene Stern Davids. Kein Wasser wird zu Wein (vgl. die Ausführungen unter „Die Hochzeit zu Kana“), und doch verstehen wir: mit Jesus bricht das messianische Zeitalter an. – Kein leeres Grab gibt es zu bestaunen. Und doch verstehen wir: Jesus ist von Gott zu neuem, ewigen Leben auferweckt worden.

Die Begegnung mit dem Auferweckten schildert Paulus auf geradezu übervorsichtige, nüchterne Weise:
„Zuletzt ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden“ (1 Kor 15,8).
„Gott hat uns einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben“ (2 Kor 4,6).
„Ich habe das Evangelium nicht von einem Menschen empfangen, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi … Gott gefiel es, seinen Sohn zu offenbaren in mir“ (Gal 1,12+15).

Vergleichen wir damit die Erzählungen in der Apostelgeschichte (Apg 9,1 ff + 22,6 ff + 26,12 ff), wird deutlich, wie nüchtern dazu Paulus mit seiner Christusbegegnung umgeht. Vermutlich gibt es heute kaum jemanden, der im Stile der Apostelgeschichte (Blindheit und Wunder der späteren Heilung) von seiner Bekehrung zu Christus berichten würde, während die Worte des Paulus sehr wohl an unsere heutigen Christuserfahrungen anknüpfen.

Enttäuschung, aber auch Entlastung, und schließlich Hoffnung bringt eine allegorische Deutung des leeren Grabes. Hoffnung deshalb, weil das Geschehen zwischen Auferstehung und Himmelfahrt kein singuläres Ereignis war. So wie Petrus, die Emmaus-Jünger oder Paulus können auch wir heute Christus als den Lebendigen erfahren.

Wir stellen uns ja oft die Zeit zwischen Auferstehung und Himmelfahrt als eine Art Zwischenzeit vor, in der Christus zwar schon auferweckt worden war, aber noch auf Erden weilte, durch verschlossene Türen ging, mit seinen Jüngern Fisch und Brot aß, eine Zeit, in der man seine Wundmale noch leibhaftig berühren konnte und in der man ihn schließlich leibhaftig durch die Wolken in den Himmel entschwinden sah. Auch hier lassen wir uns wieder durch die allegorische Sprechweise verleiten, Bilder wörtlich zu nehmen, die doch nur Stilmittel der Verkündigung sein wollen.

Interessanterweise macht Paulus zwischen den Christuserfahrungen der ersten Jünger (vor der Himmelfahrt) und seiner Christuserfahrung (nach der Himmelfahrt) keinen Unterschied. Er ist (wie sie) dem Herrn begegnet. Er hat (wie sie) den Auftrag, Christus zu verkünden. In derselben Tradition stehen auch wir. Unsere Christuserfahrung unterscheidet sich von der der ersten Jünger nicht grundsätzlich. Wir beschreiben sie nur nüchterner und benutzen nicht mehr das Stilmittel der Allegorie. (Allerdings begegnen wir auch heute Christen, die ihre Erfahrungen mit Christus – wohl mehr unbewusst – in Bilder kleiden: „ … und dann machte mir Jesus plötzlich klar …“ oder „ich war dem Evangelium gegenüber total blind. Dann hat mir Jesus die Augen geöffnet …“ oder „ … in dieser verzweifelten Lage hat mir Jesus ganz unerwartet eine Tür aufgetan …“)

Die Erzählung vom leeren Grab ist kein Märchen, keine Fabel, sondern ein Bild, ein Stilmittel der Verkündigung. Wenn man die Auferstehung in ein Bild fassen wollte – was würde man malen? Der Auferstandene ist ja nicht sichtbar, es sei denn wir malen ihn wieder „irdisch“ (so in vielen Kirchen zu sehen). Wenn wir also die Auferstehung in ein Bild fassen wollten, wäre vielleicht das beste und angemessenste Bild das vom leeren Grab. Nicht das, was wir auf dem Bild sähen, wäre wichtig, sondern das, was sich jeder Illustration entzieht: „Ihr sucht Jesus von Nazareth. Er ist nicht hier. Er ist auferstanden. Seht das leere Grab.“