Heiler oder Heiland?

Heiler oder Heiland?

Heilungswunder im Neuen Testament

 

Hat Jesus geheilt? Die Bejahung dieser Frage scheint so selbstverständlich, dass die Frage überraschen muss. Macht man jedoch eine Unterscheidung, die unserem modernen Denken geschuldet ist, ist die Beantwortung dieser Frage nicht mehr so einfach: die Unterscheidung zwischen Jesus Christus dem HEILAND und dem irdischen Jesus als HEILER.

Alle Berichte der Evangelien über Jesus als Heiler sollen dazu dienen, Jesus als Heiland, als Messias auszuweisen. Lesen wir z. B. Lk. 4,18 ff., so stellen wir fest, dass eine Aussage, die Jesaja von sich macht (Jes. 61,1-2), auf Jesus übertragen wird:

18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt,  zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen,
19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«
20 Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.
21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.
Lk. 4,17-21

Dasselbe gilt für Mt. 11, 2-6:

Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht:
Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.

Jesus nimmt hier Bezug auf Jesaja 29, 18-19 und 35, 4-6:

Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. Jes. 29, 18-19

Saget den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.« Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Jes. 35, 4-6

Die alttestamentliche Stellen sprachen von den Tauben, die hören werden, von den Blinden, die sehen werden, von den Lahmen, die gehen werden, von den Stummen, die reden werden, von den Elenden (den Aussätzigen und Besessenen) die rein werden, von den Toten, die lebendig werden. Alle diese Heilungen sind aufs engste verknüpft mit dem Kommen des Heilandes, es sind „Zeichen“, die auf Jesus als den versprochenen Messias hindeuten. Und wieder stellen wir die Frage: Gibt es einen Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten? Sind die Heilungsgeschichten real oder sind sie literarische Bilder, allegorische Aussagen? Möchten sie sagen, dass Jesus ein Heiler war oder dass er der Heiland ist?

Heilungswunder nur in den Evangelien und in der ihnen nahestehenden Apostelgeschichte

Es gibt zu denken, dass außerhalb der Evangelien nichts über Jesus den Heiler berichtet wird. Keiner der Briefe des Paulus (geschrieben lange vor den Evangelien), keiner der späteren Briefe (geschrieben nach den Evangelien) berichtet auch nur ein Wort von Jesus dem Heiler. Sie berichten aber auf jeder Seite von Jesus dem Heiland. Auch die Evangelien selbst messen dem Heilen unterschiedliches Gewicht bei. Während das Matthäus-Evangelium über 24 Heilungsberichte beinhaltet, sind es bei Johannes nur vier Berichte. Bei Lukas setzen sich die Heilungswunder in der Apostelgeschichte (auf die Jünger übertragen) nahtlos fort: Sowohl Petrus als auch Paulus können Lahme heilen und sogar Tote auferwecken. Nichts davon berichtet Paulus selbst, obwohl er seitenlang seine apostolische Qualitäten aufzählen kann (z. B. Philipper 3,5 ff.). Im Gegenteil: Paulus berichtet von seinem todkranken Mitarbeiter Epaphroditus, der offensichtlich auf ganz „normalem“ Wege gesund geworden ist (Philipper 2,27), ohne dass ein Zutun des Apostels erwähnt wird; er berichtet von seinem Mitarbeiter Timotheus, der oft krank ist, der aber nicht geheilt wird. Paulus schlägt ihm statt dessen vor, regelmäßig ein wenig Wein „um des Magens willen“ zu trinken (1. Tim. 5,23). Paulus selber hat eine unheilbare Krankheit („ein Pfahl im Fleisch“), die trotz dreimaligen Flehens nicht geheilt wird. Da scheint weder die Krankensalbung nach Jakobus 5,14-15 noch die in 1.Kor. 12,9 erwähnte „Gabe, gesund zu machen“ etwas ausrichten zu können.

Anmerkung: Interessant an diesen Berichten ist jedoch, dass den Kranken (Epaphroditus, Timotheus, Paulus) nicht der Glaube abgesprochen wird. Zur Zeit Jesu war das Denken der Freunde Hiobs noch weit verbreitet: Wer krank ist, hat einen Dämon. Er ist aus der Gnade Gottes gefallen. Erst mit der Heilung wird er wieder „rein“. Dämonenaustreibung zur Zeit Jesu ist deshalb Krankenheilung und umgekehrt. So heißt es an der Stelle, wo Jesus die fieberkranke Schwiegermutter des Petrus heilt: „Und er trat zu ihr und gebot dem Fieber, und es verließ sie.” Lk. 4,39

Also: weite Teile des Neuen Testaments kommen ohne Heilungswunder aus, aber nicht ohne das Evangelium vom Heiland. Auch das spricht eher dafür, dass die Evangelien generell von Jesus als dem Heiland und nicht als dem Heiler berichten.

Die Sünder bedürfen des Arztes

Im Markusevangelium wird dieses  Jesuswort überliefert:

Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder  zu rufen und nicht die Gerechten (Mk. 17). Nachdem Jesus sagt „Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken“ müsste doch eigentlich die Fortsetzung lauten: „Ich bin gekommen, die Kranken zu rufen und nicht die Gesunden. Stattdessen werden die Sünder in die Nachfolge gerufen. Natürlich war das zu Jesu Zeiten nahezu identisch: Ein Kranker wurde als Sünder angesehen, sonst hätte Gott ihn ja nicht mit Krankheit geschlagen. Trotzdem geht die „Gleichung“ in V. 17 nicht auf, denn die vielen Zöllner und Sünder waren ja nicht alle physisch krank. Im Gegenteil: sie lagen fröhlich mit Jesus zu Tisch. Markus sagt also nicht: diese Menschen sind alle krank, deshalb sind sie Sünder, sondern: diese Menschen sind Sünder und deshalb (im metaphorischen Sinne) krank. Jesus als Arzt – das ist hier nicht wörtlich gemeint, sondern im übertragenen Sinn. Jesus ruft die Menschen in die Nachfolge (durch seine Lehre) und dadurch genesen sie. Sie waren „blind“ und „taub“, jetzt werden ihre Augen und Ohren geöffnet. Jesus wird hier nicht als „Dr. med.“ vorgestellt, oder als Wunderheiler, sondern als Heiland, der die Sünder in seine Nachfolge ruft und so zurechtbringt.

Genau das geschieht in den vorhergehenden Versen 13-14. Jesus lehrt, und seine Lehre ruft den Zöllner Levi in die Nachfolge. Mit genau denselben Worten werden die ersten Jünger am See in die Nachfolge gerufen (Mk.1, 16-20):

Als er aber am Galiläischen Meer entlangging, sah er Simon und Andreas, Simons Bruder, wie sie ihre Netze ins Meer warfen; denn sie waren Fischer. Und Jesus sprach zu ihnen: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.

 Eine Berufungsgeschichte mit negativem Ausgang finden wir dagegen in Mk. 10, 21-22:

Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach! Er aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.

Nach diesem exemplarischen Bericht eines Rufes in die Nachfolge, fügt Markus einen summarischen Bericht an: „…denn es waren viele (= Zöllner und Sünder), die ihm nachfolgten.“
(V. 15).

Krankheit als Bild für Gottferne erscheint im ganzen AT

Jesus als „Arzt“, der gekommen ist, die Sünder in die Nachfolge zu rufen: Das ist hier die Botschaft von Markus. Es geht nicht um die körperliche Krankheit, auch nicht um die seelische, sondern um die geistliche. Diese Betrachtungsweise finden wir im Alten Testament an vielen Stellen. Hier ist es Gott selber, der heil macht und die Menschen zurechtbringt:  „Ich bin der Herr, dein Arzt“ (2. Mose 15,26). Immer wieder tauchen dieselben Bilder auf: Blinde, Taube, Stumme, Aussätzige, Gefangene und Tote. Immer geht es um geistliche Blindheit, um geistliche Taubheit, um geistlichen Tod. So z.B. in Jesaja 6, 8-10:

Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich! Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet's nicht; sehet und merket's nicht! Verstocke das Herz dieses Volks und lass ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen (!).

Gott beklagt sich über sein Volk:  sein Herz ist verstockt. Es hat den Bund, den Gott mit ihm am Sinai geschlossen hat, aufgekündigt. Es ist blind und taub. Es hat Augen, aber sieht nicht; es hat Ohren, aber hört nicht. Es ist geistlich tot.

Anmerkung: „Verstocke das Herz dieses Volkes“: Hebräische Satzwendung. Sie meint nicht, dass Gott aktiv das Volk mit Blindheit schlägt (so dass es für seinen Abfall gar nichts kann). Gemeint ist:

Predige diesem Volk, so dass sichtbar wird: sein Herz ist verstockt.
= durch die Predigt des Propheten wird der Mensch in eine Entscheidung gestellt. Und weil es dann gegenüber Gottes Botschaft verschlossen ist, wird es als blind und taub und tot benannt.

Aber dann, am Ende des Jesajabuches, leuchtet eine große Hoffnung auf.  Gott, der große Herr und Hirte und Arzt seines Volkes, wird einen Heiland schicken, einen Messias:

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.  Jesaja 29,17-19

Eine messianische Zeit wird vorhergesagt. Gott selbst wird kommen in seinem Messias. Dann werden die Blinden wieder sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Toten erwachen zu neuem Leben. Die Zeit der geistlichen Dürre wird abgelöst von einer Zeit, in der das Volk die Hand Gottes neu ergreift. Dann wird die Freude groß sein im Land.

Mit mir, sagt Jesus in der Synagoge in Nazareth, mit mir hat sich dieses Wort der Schrift erfüllt (Lk.16-20).

Enge Verknüpfung von Lehre und Predigt mit Heilung

Noch etwas gibt im Zusammenhang mit den Heilungswundern zu denken: Sie geschehen alle an Menschen „von außen“, die (noch) nicht in der Nachfolge Jesu stehen. Hier wird wieder der Zeichencharakter der Heilung deutlich: Jesus „öffnet die Augen“, er „richtet Menschen auf“, er gibt Menschen Kraft, ihren Weg zu gehen (statt von anderen getragen zu werden), er nimmt ihre Sünden weg und macht sie „rein“ vor Gott, er „öffnet ihre Ohren“ („Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ vgl. Mk. 8,18), er macht sie lebendig, er schenkt ihnen „neues Leben“. So sind die Heilungen auch immer aufs engste verknüpft mit Jesu Predigt und Lehre. Sie geschehen vorzugsweise in der Synagoge und in und vor Jesu Lehrhaus in Kapernaum. Vgl. diesen Abschnitt aus Mk. 1, 21ff.:

Und sie gingen hinein nach Kapernaum; und alsbald am Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte. Und sie entsetzten sich über seine Lehre; denn er lehrte mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten. Und alsbald war in ihrer Synagoge ein Mensch, besessen von einem unreinen Geist; der schrie:  Was willst du von uns, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen, uns zu vernichten. Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes! Und Jesus bedrohte ihn und sprach: Verstumme und fahre aus von ihm! Und der unreine Geist riss ihn und schrie laut und fuhr aus von ihm. Und sie entsetzten sich alle, sodass sie sich untereinander befragten und sprachen: Was ist das? Eine neue Lehre in Vollmacht! Er gebietet auch den unreinen Geistern und sie gehorchen ihm! Und die Kunde von ihm erscholl alsbald überall im ganzen galiläischen Land.

Die Dämonenaustreibung wird von Jesu Lehre umrahmt. Sie wird am Anfang des Geschehens dadurch betont, dass die Lehre in der Synagoge stattfindet. Am Ende wird wieder die Lehre betont: „Eine Lehre mit Vollmacht“.

Es ist diese Lehre, die die unreinen Geister austreibt und die Menschen heil werden lässt. Der Inhalt der Lehre wird hier nicht benannt, wohl aber ihre Herkunft. Die steckt in der Formulierung „und sie entsetzten sich“. In der Bibel werden Menschen regelmäßig dann von Schrecken und Entsetzen erfasst, wenn sie die Gegenwart Gottes spüren. In Jesu  Lehre erfahren die Menschen Gottes Anwesenheit und kommen dadurch zum Glauben. „Dein Glaube hat Dir geholfen“: Es ist nicht so, dass die Menschen ganz fest daran glauben müssten, dass Jesus sie heilen kann, dass sie also einen großen Glauben für die Heilung haben müssten (vgl. dazu Mt. 17,20!). Vielmehr führt die Lehre zum Glauben und damit in die (geistliche) Gesundheit, zum Heil.