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Das Chaosmeer

Altorientalisches Weltbild

Beginnen wir mit dem Himmel, der uns eine wichtige Unterscheidung bewusst macht. Es gibt einen natürlich-physikalischen Himmel (engl. sky) und einen transzendenten, „himmlischen“ Himmel (engl. heaven). Gottes „Wohnort“ kann über den Wolken und im Weltall nicht gefunden werden, wie schon der russische Kosmonaut Gagarin (spöttisch) feststellte, als er als erster Mensch von einem Weltraumflug zurückkehrte. Wenn wir also beten „Unser Vater im Himmel“, dann verbinden wir mit „Himmel“ keinen Ort, sondern Gottes ganz anderes „Sein“, seine Existenz, die alle unsere physikalischen Dimensionen übersteigt und durchdringt.

Das war nicht immer so. Erst im Mittelalter, mit immer genaueren Mess- und Beobachtungsmöglichkeiten, konnte nachgewiesen werden, dass Gott nicht von dieser Welt ist. Bis dahin dachte man sich ihn durchaus unserer Welt zugehörig. Er thronte über den Wolken im Himmel (sky) und konnte auf den Wolken „niederfahren“ auf die Erde. Die Unterscheidung zwischen „sky“ und „heaven“ ist also eine recht junge menschliche Erkenntnis – wenngleich die babylonischen (und jüdischen) Priester und die griechischen Philosophen und die östlichen Religionsstifter gedanklich schon vieles vorweggenommen hatten.

Was hat dies alles nun mit dem Meer zu tun? Wir erfahren das Meer als Sehnsuchtsort, (Palmen, Strände, Kreuzfahrten …), aber auch als Ort großer Gefahren (Tsunamis, Stürme, Schiffsbrüche …) In jedem Fall erfahren wir das Meer jedoch „diesseitig“, unserer Welt zugehörig, als ein Ort unter dem Himmel (sky). Ganz anders erscheint er im altorientalischen Weltbild, aus dem sich das Weltbild des Alten Testaments herleitet. Hier gibt es am Anfang keinen Urknall und keinen sich ausdehnenden Raum. Vielmehr gibt es ein alles bedeckendes Urmeer. Es ist das Chaos schlechthin. Es macht nach damaligem Verständnis Leben unmöglich. Über dem Chaosmeer (also nicht über den irdischen Meeren, sondern über den Wassern des Firmaments, vgl. Graphik) schwebt der Geist Gottes, später gleichgesetzt mit dem „Wort Gottes“, also seiner Schöpferkraft. Gottes Geist nun setzt einen Prozess in Gang, der inmitten des Chaosmeeres so etwas wie eine Luftblase schafft, einen Raum, der das Chaosmeer zurückdrängt: „Es werde eine Feste („Kuppel“) zwischen den Wassern, die da scheide zwischen den Wassern. Und Gott nannte die Feste „Himmel“ (Sky) (1Mo 1,6). Diese Himmelskuppel ruht auf den Säulen der Erde (Ps 75,4). Die Säulen wiederum (hier endet die reale Vorstellungskraft) werden getragen und gehalten von „Gottes Weisheit“ (Spr 3,19: „Jahwe hat die Erde mit Weisheit gegründet.“) Gottes Weisheit, Gottes Wort und der Logos (Joh 1,1-4) – das sind alles Synonyme für Gottes Schöpferkraft, seine Schöpfungsintelligenz sowie für seine Macht, das Geschaffene zu erhalten.

Die Weltbild-Graphik zeigt weiterhin Sonne, Mond und Sterne, die allesamt innerhalb der Weltkuppel ihre Bahnen ziehen. Ferner sieht man die „Schleusen des Himmels“, aus denen der Regen aus den Wassern über dem Firmament fließt, wenn Gott sie öffnet (1Mo 7,11). Ebenso kann Gott die Schleusen nach Bedarf auch wieder schließen (1Mo 8,2). Die beiden Bibelstellen machen deutlich, dass auch die Wasser unter der Erde über aufbrechende Brunnen wieder wirksam werden können. In den Tiefen der Meere leben Meeresungeheuer, denen man anheim fallen kann, die aber auch unter der vollen Kontrolle des Schöpfergottes stehen (Ps 74,13). Und unten im Chaosmeer denkt man sich die Scheol, das Totenreich, in dem die Verstorbenen ein karges Schattendasein fristen (1Sam 2,6).

Schon früh beginnen die Schreiber der Bibel zu unterscheiden zwischen ihrer realen Welt („sky“) und den mythologischen Bildern der alten Schöpfungserzählungen („heaven“). So heißt es z. B. schon in Maleachi 3,10: „Stellt mich auf die Probe und wartet, ob ich euch dann nicht die Schleusen des Himmels öffne und Segen im Übermaß auf euch herabschütte.“ Hier geht es ja nicht mehr um den realen Regen, sondern um die Schleusen des „himmlischen“ Himmels, aus dem der Segen fließt. Ein weiteres Beispiel finden wir in Jer 16,16: „Siehe, ich will viele Fischer aussenden, die sollen sie fischen.“ Hier ist vom Volk Gottes die Rede, das im (übertragenen) Chaosmeer verloren gegangen ist. Gott möchte es aus den Fluten retten, „herausfischen“, zurechtbringen.

Es ist dieses Bild, das Markus (und in seinem Gefolge die anderen Evangelisten) aufgreift, wenn er die Jünger zu „Menschenfischern“ macht (Mk 1,17). Überhaupt wird bei Markus der See Genezareth („das galiläische Meer“) zum Sinnbild für das Chaosmeer: Hier geht Gott über dem Wasser (Mk 6,48ff.; vgl. Hiob 9,8: „Er breitet den Himmel aus allein und geht auf den Wogen des Meeres.“), hier gebietet er über das Chaos (Mk 4,41), hier werden „Fische“ gefangen (Joh 21,-14). Die Boote werden zum Sinnbild der Gemeinde, die mit Jesus unterwegs ist und auf bedrohlichen Wassern seine göttliche Nähe erfährt.

Nachtrag:

Die Kenntnis des alttestamentlichen Weltbildes eröffnet manchmal überraschende Zusammenhänge. So heißt es bei der Taufe Jesu (Mk 1,10-11)
Und alsbald, als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass sich der Himmel auftat und der Geist wie eine Taube herabkam auf ihn.

Betrachtet man die Graphik vom Weltbild (s.o.), so wird deutlich: der Himmel wird nur aufgetan durch die Teilung der oberen Wasser! Das Chaosmeer muss zurückweichen, eine direkte Verbindung zwischen Gott und Mensch (Jesus) entsteht. Das erinnert an den Auszug aus Ägypten. Auch dort teilte sich das Meer (als Sinnbild des Chaosmeeres), das Volk Gottes gelangte in die Freiheit, während die ägyptischen Verfolger von den zurückkehrenden Wellen verschlungen wurden. Diese Parallele ist von Markus durchaus gewollt. Bei ihm sagt Gott aus dem geteilten Chaosmeer heraus: „Du bist mein lieber Sohn“ (Mk 1,11). „Sohn“, das war damals die übliche Umschreibung des jüdischen Volkes. Israel war „der Sohn“ Gottes. („Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“, Hosea 11,1). Darauf nimmt Matthäus bei der Rückkehr Jesu aus Ägypten Bezug (Mt 2,15). Jesus ist für ihn der Ursprung eines neuen Israels. Wenn also auch Matthäus formuliert: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“, so hat er Mose und das Volk Israel vor Augen. Wie damals sich das Meer teilte, so teilt sich nun für Jesus („als er aus dem Wasser stieg“) das obere Chaosmeer und Gottes Zusage erschallt. „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.“

 

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